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Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin Dr. Regina Bittner
Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin Dr. Regina Bittner© Hartmut Boesener

Interview mit der Kuratorin Dr. Regina Bittner

Veröffentlicht am Freitag, 24. März 2017

"Substanz" ist das Jahresmotto der Stiftung Bauhaus Dessau im Jahr 2017. Nach "Kollektiv" und "Bewegung" widmet sich die Stiftung damit nun den materiellen, handwerklichen und industriellen Prozessen des historischen Bauhauses. Die dazugehörige Jahresausstellung "Handwerk wird modern. Vom Herstellen am Bauhaus" ist ab 13. April zu sehen. Dr. Regina Bittner, stellvertretende Bauhaus-Direktorin und gemeinsam mit Renée Padt Kuratorin der Ausstellung, gibt im LEO-Gespräch Einblicke in die Schau, die als wichtiger Schritt zum Bauhaus-Jubiläum 2019 gilt.

Wie entstand die Idee zur Jahresausstellung "Handwerk wird modern"?

Dr. Regina Bittner: Im Grunde schwelt die Idee, sich auch einmal mit dem Handwerk in Dessau zu beschäftigen, schon eine ganze Weile. Bei genauerer Betrachtung trifft die gängige Trennung zwischen der expressionistischen Phase in Weimar, in der tatsächlich noch die Idee der Verbindung zwischen Kunst und Handwerk das gemeinsame Dach bildete, und der Dessauer Zeit so nicht zu. Beim genaueren Recherchieren und Forschen in unserem eigenen Sammlungsbestand, wenn man sich die Protokolle und auch die Selbstbeschreibungen und Verlautbarungen der Form- und vor allem der Werkmeister anschaut, dann stellt man fest, dass sich das Handwerk wie eine Art Grundrauschen in den Debatten innerhalb der Dessauer Werkstätten fortsetzte. Aber dass es keine fixe Größe war, sondern immer wieder ein Begriff, mit dem ganz verschiedene Positionen und Erwartungen verknüpft waren. Deswegen kann man sagen, dass das Handwerk auch am Bauhaus Dessau ein Stück weit neu erfunden wurde. Als Versuch, Fragen von künstlerischer Position in der Industriegesellschaft neu zu definieren. Was ist der Gestalter? Wie kann unter den Bedingungen der industriellen Kultur ein Künstler in den Alltag einwirken, ihn gestalten und transformieren? Wir haben da viele unterschiedliche Positionen und Debatten gefunden.

Das Zweite, das bisher ein wenig unterbelichtet ist und in der Ausstellung neu gewürdigt werden soll, ist die besondere Rolle der Werkmeister in der Dessauer Phase. Aber auch das ökonomisch und politisch motivierte Spannungsfeld zwischen dem klassischen Handwerk und dem Bauhaus, das in Weimar und Dessau gleichermaßen bestand, wollen wir beleuchten. Deswegen ist es wahrscheinlich keine klassische kunstgeschichtliche Ausstellung, sondern eine kulturgeschichtliche, in der wir auf genau diese vielfältigen kulturellen Kontroversen, die sich immer wieder insbesondere am Handwerk festgemacht haben, verweisen wollen.

Ein weiterer Grund ist ganz aktuell. Das "Do-it-your-self", das Selbstgemachte, erlebt im 21. Jahrhundert eine enorme Renaissance. Mit der zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung wollen die Menschen wieder mehr selbst machen, die Dinge in die eigene Hand nehmen. Das war in den 20er Jahren ebenso. Die massive Beschleunigung des Alltags, auch durch die Erfahrung der Massenproduktion, wo die Leute schon damals das Gefühl hatten, gar nicht mehr zu wissen, wie die Waren hergestellt wurden. Diese parallele Situation ist sehr spannend.

Deshalb ist die Ausstellung nicht nur ein Blick auf die Werkstätten der 20er Jahre als Transiträume zwischen Lehrwerkstätten der Kunstgewerbeschulen und industrieller Produktion, sondern wir haben auch sehr bewusst internationale Handwerkspositionen eingeladen, also Designer, die das Handwerk neu denken. Dadurch treten die historischen Debatten und gestalterischen Positionen quasi mit denen von 2017 in einen produktiven Dialog. Das bekommt der Besucher auch zu sehen. Der Besucher wird erst einmal in der Gegenwart empfangen und geht von da aus zurück in die Geschichte der Werkstätten.

"Handwerk wird modern" will vor allem den Entstehungsprozess hinter dem Produkt sichtbar machen. Was werden die Besucher zu sehen bekommen?

Dr. Regina Bittner: Ganz neu ist, dass wir auch Maschinen und Werkzeuge zeigen. Die Ausstellung ist so aufgebaut, dass sie ein großes Kapitel den Dialogen zwischen Form- und Werkmeistern widmet. In der Holzwerkstatt zum Beispiel sind neben Zeichnungen von Josef Albers auch fertige Produkte zu sehen. Man erfährt auch etwas über den Weg dieser Objekte in die Öffentlichkeit in Gestalt von Objektbiografien, mit denen wir z.B. zeigen, wie aus einem Prototyp ein Bestseller wird. Im Kapitel „Materiallager“ kann man verfolgen, wie hier mit damals neuen Materialien wie zum Beispiel Aluminium, Zellophan oder Kunstseide gearbeitet wurde.

Im Bereich zur Weberei wird anhand der Arbeit von Anni Albers, die sich sehr stark von präkolumbianischen Textilien hat inspirieren lassen, erlebbar, dass auch auf historisch gewachsene Handwerkstraditionen zurückgegriffen wurde. Wir haben herausgefunden, dass die Weberinnen in den 20er Jahren Exkursionen nach Berlin gemacht haben, weil das Ethnologische Museum in Berlin schon damals eine der größten Sammlungen präkolumbischer Textilien präsentieren konnte. Sie wollten sich diese Textilien auf der Suche nach einer universellen Formsprache, die über Zeit und Raum Gültigkeit hat, ansehen. Wir haben das große Glück, solche Stücke auch in der Ausstellung zeigen zu können. Eine gewebte Arbeit von Anni Albers wird zu sehen sein, aber eben auch Textilien aus Berlin, einige sehr kostbare Stücke, die uns das Ethnologische Museum zur Verfügung gestellt hat und von denen sie sich hat inspirieren lassen. Wir haben von der „Josef and Anni Albers Foundation“ aus den USA auch einige Stücke der Sammlung erhalten, die sie nach ihrer Emigration 1934 selbst auf Reisen nach Mexiko und Peru angelegt hat. Man hat also einen Dialog zwischen Dingen, die schon in den 1920er Jahren präsentiert wurden, und den Textilien, die sie selbst gesammelt hat – und dazwischen sitzen ihre eigenen Arbeiten. Das gab es so noch nie. Ein anderes Highlight der Ausstellung ist das Jacquard-Gewebe "Fünf Chöre", eines der Meisterwerke von Gunta Stölzl. Es ist hier entstanden und ist besonders spannend, weil es genau zwischen dem sitzt, was die Weberinnen hier eigentlich nicht mehr machen wollten, nämlich Bilder und Gobelins aus Textilien zu weben, und den angestrebten Stoffmustern für die Industrie. Der Titel der Arbeit "Fünf Chöre" ist selbst schon doppeldeutig, denn mit Chor wird auch ein technischer Vorgang am Jaquardwebstuhl bezeichnet. Genau dieses „Dazwischensitzen“ zwischen Kunst und Industrie kommt in diesem Objekt sehr schön zum Ausdruck. Was unsere Sammlung ausmacht, ist außerdem, dass wir sehr viele Schülerarbeiten haben. Der Besucher bekommt viele dieser Skizzen und Aufzeichnungen zu sehen, um den Entstehungs- und Herstellungsprozess zu verstehen. Es geht also weniger um das fertige Produkt als darum, den Besucher mit dem Machen vertraut zu machen. Und das interessiert uns meistens ja auch mehr.

Was können Sie zum Begleitprogramm zur Ausstellung verraten?

Dr. Regina Bittner: Für uns stand von Anfang an fest, dass wir im Raum zur Gegenwartsposition auch einen Bereich einrichten, der die Ausstellung ein Stück weiterstrickt. Der Gedanke ist, dass das Begleitprogramm nicht irgendwo im Keller außerhalb der Ausstellung abläuft, sondern dass die Ausstellung ein Ort ist, um sich mit den gezeigten Objekten auseinanderzusetzen, aber eben auch, um weiter zu produzieren. Es wird ein permanentes Angebot geben, das auch ohne Betreuung stattfinden kann. Im „Makerspace“, einem Raum in der Ausstellung, können sich die Besucher ihren eigenen Ausstellungskatalog gestalten. Das richtet sich sowohl an Erwachsene als auch an Kinder, an Menschen unterschiedlichster kultureller Herkunft. Wir sind sehr gespannt darauf, wie sie uns sozusagen mit ihrem Katalog eine ganz andere Ausstellungsgeschichte erzählen.

Dann ist dieser „Makerspace“ auch ein Ort, an dem wir immer mittwochs, im Rahmen unserer offenen Werkstatt, mit jungen Leuten und unterschiedlichsten Materialien arbeiten. Einmal im Monat findet donnerstags eine Art "Klassenraum der Objekte" statt, in den wir Gäste aus der Region einladen, mit uns gemeinsam bestimmte Ausstellungsstücke von allen Seiten zu diskutieren. Natürlich wird es auch klassische Formate wie die Kuratorenführung geben. Zum Internationalen Museumstag ist eine Schauvorstellung geplant. Wolfgang Schäfter, der Sohn von Alfred Schäfter, dem Bauhaus-Metallwerkmeister bis 1930, führt mit seiner Frau Erika das Erbe als Gold- und Silberschmiede fort. Die beiden haben uns einige wunderbare Leihgaben gegeben und Erika Schäfter wird uns in der Schauvorstellung etwas vorschmieden. Und dann wird es zum Internationalen Museumstag ein Schauweben mit einer Weberin geben, die sich viel mit Bauhaustextilien beschäftigt hat. Im August haben wir ein Symposium, das im Zusammenhang mit dem internationalen Postgraduiertenprogramm steht, das sich dieses Jahr auch mit Aspekten des Handwerks im Design beschäftigt.

Wir hoffen sehr, dass die Ausstellung möglichst viele Besucher anzieht und geben unser bestes, dass auch das Begleitprogramm seinen Teil dazu beiträgt.

"Handwerk wird modern" ist die Auftaktausstellung zum 100-jährigen Jubiläum im Jahr 2019. Wie geht es bis dahin weiter?

Dr. Regina Bittner: Auch im Museum soll ja der Fokus auf der Schule, den Werkstätten und dem Alltagsleben am Bauhaus liegen. Wir haben für „Versuchsstätte Bauhaus“ – so der Arbeitstitel für die Sammlungspräsentation – immer den Anspruch gehabt, auf Dessau zu fokussieren und hier vor allem die Schule zu zeigen. Das Spannende an Dessau ist ja, dass das Bauhaus hier Alltag geworden ist. Hier wurden Prototypen hergestellt, hier hat die Schule gebaut. Ganz anders als in Weimar, wo außer dem „Haus am Horn“ keine weitere Architektur entstand. In Dessau ist das Bauhaus tatsächlich in den Alltag „durchgesickert“. Eine Dessauer Familie hat sich zum Beispiel durch die Holzwerkstatt die komplette Wohnung einrichten lassen. Wir zeigen in der Handwerksausstellung Ausschnitte aus diesem Konvolut, neben der Korrespondenz eben auch Teile der Einrichtung, die man dann erst 2019 im neuen Museum mit mehr Platz in ganzem Umfang zu sehen bekommen wird. Man sieht daran sehr schön, wie dicht das Bauhaus und die Dessauer miteinander zu tun hatten.

Dieser Mythos, das Bauhaus jenseits der Bahnschienen hätte mit der Stadt nicht viel zu tun gehabt, stimmt so einfach nicht. Diesen Bezug darzustellen ist wichtig, denn das Museum wird ja im Stadtpark stehen. Es wird nicht auf dem "Welterbeterritorium" errichtet, sondern jenseits der Bahnschienen. Umso mehr glaube ich, dass man diesen Punkt der Veralltäglichung des Bauhauses in Dessau stärker, als etwas ganz Besonderes, hervorheben muss. Das unterscheidet uns auch von Weimar und Berlin, insbesondere weil es immer auch die Verknüpfung zu den Bauhausbauten gibt. In Törten ist das Bauhaus gelebter Alltag. Die Leute haben das angenommen, es weiterentwickelt und ihre eigenen Bauhaus-Geschichten daraus geschrieben. Das ist ein sehr wichtiger und schöner Punkt, der die Besucher hoffentlich auch in den Stadtpark ziehen wird, um sich die Präsentation anzusehen. Gerade dafür ist auch die Handwerksausstellung ein guter Moment. Sie kann bestimmte Punkte herausziehen, stärker und deutlich machen.

Gab es bei der Recherche für die Ausstellung auch Entdeckungen, die Sie selbst überrascht haben?

Dr. Regina Bittner: Die ganzen Unterrichtsaufzeichnungen, gerade der Weberinnen, waren sehr spannend. Es ist erst einmal ja ein eher sperriges Material, verglichen mit einem schönen Stuhl oder einer tollen Textilarbeit.

Aber es ist umso faszinierender, sie dann zu sehen, zumal sie sehr gut erhalten sind. Vielleicht ist es auch deswegen so interessant, weil wir eigentlich ziemlich gesättigt sind. In der Gropiusallee wird bald der "Bauhausblick Teil 2" stehen, Flachdacharchitekturen sind mittlerweile überall gängig, weiße Kuben, flache Dächer und Glasvorhangfassaden sind Mainstream geworden. In jeder Arztpraxis findet man Stahlrohrfreischwinger, das ist überhaupt nicht mehr ungewöhnlich. Es ist fast wieder notwendig, das Bauhaus ein wenig zu verfremden. Zu erzählen, wo es eigentlich herkam, wofür es steht.

"Das Bauhaus ist rechteckig und Metall", diese inzwischen so gängige und formale Vorstellung vom Bauhaus gilt es zu korrigieren. Es ist viel vielfältiger, viel hybrider, viel kontroverser und es ist zum Teil auch viel dramatischer. Und ich denke, es ist wichtig, das wieder zu zeigen. Denn die nächste Generation schaut ganz neugierig darauf, was das Bauhaus eigentlich hervorgebracht hat. Und es ist unser Job, es wieder kritischer, spannender und interessanter zu machen, um von diesem sehr formalistischen und stilistischen Bild weg zu kommen, das uns scheinbar immer wieder als Bauhaus verkauft wird. Also weg vom Stil und hin zur Bauhauskultur, die äußerst vielfältig und kontrovers war.

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